Der Völkerrechtler Tobias Vestner im Interview mit Yvonne Hofstetter

"Das Recht ist nicht klar"

Noch sind sich die Staaten nicht darüber einig, wann ein Cyberangriff einem bewaffneten Angriff gleicht, der das Recht zur Selbstverteidigung mit militärischen Mitteln auslöst.

Genf, 14. März 2018

Ve-17

Meine Gegenargumentation ist, dass weder das Kriegsvölkerrecht noch das humanitäre Völkerrecht oder die Menschenrechte eine Vorschrift oder auch nur den Geist einer Vorschrift enthalten, dass [es] ein Mensch [sein muss, der] einen Menschen tötet - oder auch nur der Spirit eines solchen Gedankens. Das heißt, wie die Tötung vollzogen wird, ist den Staaten bzw. den Kriegsparteien überlassen. Ich denke, das ist ein sehr pragmatischer Ansatz, weil man sagt, man will den Effekt erzielen. Also: "Können wir 'targeted killing' oder nicht?" "Und was ist mit 'collateral damages'?"


Ve-21

Ja, man muß diskutieren. Wir brauchen mehr Information. [Aber] das ist die typische Verhandlungstaktik [bei den Vereinten Nationen]; man sagt, nein, nein, man sei noch nicht bereit... So kann man Zeit herausschinden, viele Recherchen mandatieren, und alle sind glücklich. Aber man kommt nicht weiter.


Ve-24

'Cyber' hat gezeigt, dass das rechtliche Regime nicht ganz klar ist. Man könnte aber sagen: "Doch, eigentlich ist es ganz klar, denn wir haben das Kriegsvölkerrecht, und wir haben die Menschenrechte." Aber die Implementierung... Was ist denn genau ein Angriff und was ist kein Angriff? Wir könnten sagen: "Eigentlich ist das Völkerrecht klar, und es gibt ja auch den 'Tallinn Manual', das von den NATO-Staaten unterstützt wird; aber die Russen und Chinesen nehmen Distanz. Daran sieht man: Informeller, als ein 'Manual' zu machen, geht es fast gar nicht. Ein paar Rechtsexperten sitzen zusammen und beraten sich: "Was sind eigentlich die Grunddinge?" Informeller geht es nicht, weil sich niemand, kein Staat, zu irgendetwas verpflichtet. Daran sieht man auch: Schon dort [bei der rechtlichen Beurteilung von 'Cyberangriffen'] findet man keinen Konsens.


Ve-30

Zum Beispiel 2008: Russland gegen Georgien. War das ein Cyberangriff? Ich denke, die meisten würden sagen: Ja. Ist das genug, um Raketen zu schicken und aus der Cyberdomain die physische Domain zu wechseln?


Ve-35

Solange es keine physischen Schäden gibt, können wir immer noch sagen: Das ist kein bewaffneter Konflikt; das ist kein Krieg.


Ve-29

Erstens, bei Cyber und hybrider Kriegsführung weiß man nicht genau, wer die Parteien sind. Man muss den Angreifer identifizieren, bevor eine Repressionsmaßnahme erfolgen kann. Zweitens, wie groß ist der Schaden, damit man sagen kann: "Das war ein völkerrechtswidriger Angriff. Wir sind im Krieg?" Auch im Krieg gelten natürlich Regeln, aber: We can kill. Wir können Kombattanten töten. Und das ist legal.


Ve-32

Das Recht muss immer bodenständig sein und darf den Bezug zur Realität nicht verlieren. Wenn ein Cyberangriff oder ein Angriff durch künstliche Intelligenz wirklich physischen Schaden hinterlässt, dann sind wir im Gegenständlichen angekommen und können auch mit Panzern zurückschlagen.


Ve-39

Wenn die Staaten ganz klar in ihren Positionen sagen würden: "Das ist für uns ein Angriff", und: "Das ist für uns kein Angriff", oder: "So und so reagieren wir, wenn...", dann wäre das ziemlich klar. Dann wüßten wir: "Und jetzt ist Krieg." Aber das wollen sie [die Staaten] nicht.