Sicherheit in der offenen digitalen Gesellschaft

 

 

Sehr geehrter Herr Präsident Münch

Sehr geehrte Damen und Herren

 

 

»Ich möchte diese Welt nicht mehr. Man muss einfach immer nur Angst haben.«

 

So lautet einer von vielen tausend Tweets am Freitag, den 22. Juli 2016. Es ist kein Freitagabend wie jeder andere. Gar nichts ist an diesem lauen Sommerabend, wie es sein sollte, seit um 17:52 Uhr ein Alarm bei der Münchner Polizei eingegangen ist: Am Olympia-Einkaufszentrum wird geschossen.

 

Dort, am OEZ, hatte ein jugendlicher Amokläufer zwischen 17.30 und 20.30 Uhr neun andere junge Menschen erschossen und anschließend sich selbst. Doch bis dahin und auch noch darüber hinaus und zum frühen Morgen des nächsten Tages hatte die Polizei mit einem unerwarteten Phänomen alle Hände voll zu tun: Die ganze Stadt München war von einer Welle der Angst erfasst.

 

Bei der Nachbearbeitung des Amoklaufs stellte die Münchner Polizei folgendes fest: Zwischen 18.00 und 24.00 Uhr waren »4.310 Notrufe eingegangen, davon waren 310 Mitteilungen über Terroranschläge an 71 verschiedenen Tatorten«. An Phantomtatorten – Phantomtatort ist eine Wortschöpfung der Münchner Polizei, »weil es dieses Phänomen in dieser Intensität und Quantität noch nie gegeben hat und an keinem dieser Ereignisorte irgendetwas war«, um den Polizeisprecher, Marcus da Gloria Martins, zu zitieren. (Eberlein, 2018)

 

Haben wir etwas aus der Welle der Angst, aus der sozialen Ansteckung dieses Abends, gelernt? Schwarmverhalten und Massendynamik können jederzeit wieder auftreten. Und einen ganz wesentlichen Anteil daran haben die sozialen Netzwerke.

 

»Ich möchte diese Welt nicht mehr. Man muss einfach immer nur Angst haben.«

 

Die Realität ist aber, dass wir in einem Land leben, das sicherer ist als je zuvor, und das ist auch dem stetigen Einsatz der deutschen Sicherheitsbehörden und Ihnen zu verdanken. Noch meine Eltern und Großeltern waren von Kriegen, Hunger, Flucht und Vertreibung betroffen. Aber schon meine Generation kann mit einer nie dagewesenen Lebenserwartung rechnen. Jedes Jahr steigt unsere Lebenserwartung um drei Monate an. Sie ist Indiz für den hohen Grad an Sicherheit in unserem Leben.

 

Trotzdem wird Sicherheit wie nie zuvor thematisiert. Alles wird unter dem Begriff der Sicherheit gefasst – Cybersicherheit, Verkehrssicherheit, Sicherheit von Arbeitsplätzen, soziale Absicherung – wir leben eben auch in einer Zeit der Versicherheitlichung. Bei genauerem Hinsehen boomt das Thema Sicherheit auch deshalb, weil sie ein Wirtschaftsfaktor ist. Sie ist eine der wenigen Industrien, in der auch heute noch zweistellige Wachstumsraten erzielt werden. Aber wenn Sicherheit den Regeln des Marktes unterworfen ist, wird Sicherheit zum Gegenstand von Umsatz und Gewinn, und in diesem marktwirtschaftlichen Sinn sind Unsicherheit und Krisen gut fürs Geschäft.

 

»Ich möchte diese Welt nicht mehr. Man muss einfach immer nur Angst haben.«

 

Vernünftig betrachtet gibt es überhaupt keinen Grund, sich derart dramatisch zu äußern; aber der Tweet hat auch nichts mit dem Gebrauch der Vernunft zu tun. Er ist authentischer Ausdruck purer Emotion. Und damit ist er das genaue Gegenteil von Vernunft und Verstand.

 

Was eigentlich – außer der ständigen Pflege unseres Sicherheitsbedürfnisses durch die Sicherheitswirtschaft – ist mit unserer Gesellschaft passiert, dass Menschen so emotional geworden sind? Denn subjektiv fühlen uns immer unsicherer.

 

Viele Menschen in Deutschland erwarten auch im digitalen 21. Jahrhundert, dass das Leben planbar ist. Man wählt einen Beruf, übt ihn viele Jahre aus, baut ein Haus und geht in Rente. Einen solchen Lebensentwurf wünscht sich die Studierendengeneration 2018: 41 Prozent der deutschen Studierenden möchten für den Staat arbeiten, 20 Prozent in der Wissenschaft und 22 Prozent in Kultureinrichtungen. (Simon, 2018) Es sind über vier Fünftel der Studierenden, die sich eine sichere, eine risikolose Zukunft staatlicher Provenienz wünschen. Für mich als IT-Unternehmerin und freiberufliche Essayistin ist das eine höchst alarmierende gesellschaftliche Entwicklung. Denn sie bedeutet, dass die Digital Natives viel schlechter als meine Generation – ich gehöre zur Generation Golf – mit Risiko und Freiheit zurechtkommen. Ausgerechnet die Digital Natives, deren digitales Leben immer wieder die Disruption heraufbeschwört. Disruption heißt Diskontinuität. Plötzlich funktionieren Gewohntes, Althergebrachtes und Traditionelles nicht mehr. Alte Geschäftsideen gehen unter: Innenstadtkaufhäuser werden durch Onlineversandhändler abgelöst, Printmedien und Bücher werden immer weniger gelesen, weil es soziale Netzwerke gibt, autonome LKWs sollen die Arbeitsplätze von Truckern übernehmen. Nichts und niemand bleibt von der Diskontinuität verschont, auch wenn nicht alle gleichzeitig von der neuen, komplexen Dynamik des Alltags im 21. Jahrhunderts betroffen sind. »Die Zukunft ist längst da, sie ist nur nicht gleich verteilt.«[1]

 

Systemisch – das heißt, im systemtheoretischen Sinne – nimmt die Unsicherheit tatsächlich zu, und zwar infolge der Vernetzung der Gesellschaft. Mit dieser zunehmenden Vernetzung aller mit allem zum Internet of Everything steigt die Anzahl der Interaktionen zwischen den vernetzten Teilchen exponentiell an. Menschen reden mit noch mehr Menschen und mit Sachen und Sachen kommunizieren mit anderen Sachen. Diese Wechselbeziehungen machen unsere Gesellschaft hochkomplex. Komplexe dynamische Systeme haben aber Eigenschaften.

 

Erstens, ihr Verhalten ist nicht vorhersehbar und deshalb auch nicht mehr planbar, also unsicher in Bezug auf die Zukunft. Unseren Wunsch nach Planbarkeit erfüllt eine digitalisierte Gesellschaft also nicht, ganz im Gegenteil.

 

Zweitens, komplexe dynamische Systeme tendieren gegen das Chaos. Chaos ist ein Systemzustand, in dem keine Ordnung, keine Strukturen und keine Verlässlichkeit mehr gegeben sind. Deshalb gilt: Je stärker wir unsere Gesellschaft vernetzen, desto mehr systemische Unsicherheit bauen wir ein und desto näher führen wir unsere Gesellschaft an die Grenze zum Chaos. Das lehren uns Komplexitätsforscher. Sie stammen aus allen Bereichen der Naturwissenschaften, aus der Physik, der Mathematik, der Biologie und der Informationstheorie. Für uns ist das Wissen um das Chaos und die Chaostheorie unser täglich Brot.

 

Die Technikfolgen der digitalen Transformation, ihre Diskontinuität und die Unvorhersehbarkeit unserer Zukunft, führen zu Verlusterfahrungen. Und diese Verlusterfahrungen machen uns Angst und verstärken das Gefühl der Unsicherheit in uns. Deshalb ist die Angst der eigentliche Grund jeder Sicherheitsdebatte.

 

Drei typische Verlusterfahrungen unserer Gesellschaft möchte ich mit Ihnen reflektieren. Sie sind der Verlust von Gemeinschaft, der Verlust der Wahrheit und der Verlust der Vernunft. Alle drei Verlusterfahrungen haben Auswirkungen auf die Demokratie und folglich auch auf Ihre zukünftige Arbeit.

 

[Der Fortschrittsprozess: Digitale Disruption und Verlusterfahrung]

 

Die erste Verlusterfahrung ist der Verlust von Gemeinschaft. Soziale Netzwerke sind mit dem Verkaufsversprechen angetreten, die Welt näher zusammenzubringen. Inzwischen wissen wir, dass sie genau dieses Versprechen nicht einhalten. Soziale Netzwerke stellen gerade nicht mehr Gemeinschaft her, im Gegenteil, sie atomisieren unsere Gesellschaft. Wir fühlen uns einsam. Individualisierung und Personalisierung sind Teil ihres Geschäftsmodells und führen dazu, was die Industrie 4.0 als Losgröße eins bezeichnet. Jeder von uns wird von sozialen Netzwerken vereinzelt und zur Singularität gemacht und auch als solche behandelt. »Der Egozentrismus [kann] keine gemeinsamen Interessen entstehen lassen« (Arendt, 1955), belehrt uns dazu die große politische Philosophin des 20. Jahrhunderts, Hannah Arendt. Jeder kümmert sich nur noch um seinen eigenen Garten. Die Solidarität schwindet, die Hilfsbereitschaft nimmt ab.

 

»Setz deine Beats(x)-Kopfhörer auf, schalte deinen Apple Radio Stream an und mach diese Welt zu deiner Welt«, lautete ein Werbespot der Firma Apple Ende 2017. Deine Welt ist eben nicht meine Welt und auch nicht seine Welt.

 

Die gesellschaftliche Folge stark vereinzelter Welten und immer kleiner werdender selbstreferenzieller Zirkel (Luhman, 1994) – wir nennen sie Filterblasen oder Echokammern – ist die Zerschlagung des allgemeinen Volkswillens als Grundlage der Republik in eine heterogene Masse vieler Einzelmeinungen.

 

Viele digitale Unternehmen haben die Masse zum Gegenstand ihres unternehmerischen Handelns gemacht. Crowdsourcing, Crowdfunding, Crowdwork sind gefeierte digitale Geschäftsmodelle, bei denen eine Leistung, die früher ein einzelnes Unternehmen erbrachte, auf die Masse der Leistungserbringer – die Crowd – ausgelagert wird.

 

Der Begriff der Masse, seit er im 19. Jahrhundert von Masseforschern aufgegriffen wurde, konnotiert umgangssprachlich mit dumm. Aber die Masse ist nicht dumm. »Das Hauptmerkmal der Individuen in einer Massegesellschaft«, schreibt Hannah Arendt, »ist nicht Brutalität oder Dummheit oder Unbildung, sondern Kontaktlosigkeit und Entwurzeltsein.« (Arendt, 1955)

 

Auch der digitalen Masse aus Singularitäten heute fehlt jede gemeinsame Sicht auf die Wirklichkeit. Denn was wir über die Wirklichkeit wissen, wissen wir aus den Massenmedien. Wenn uns digitale Massenmedien immer nur in unserer eigenen Gummizelle festhalten und nur uns selbst und unsere Gesinnungen referenzieren, lernen wir nur eine eigene Wirklichkeit kennen – unsere eigene. Das wird sich künftig noch verschlimmern, wenn Virtual Reality stärker um sich greift, wenn ich Urlaub machen kann an einem Strand, über dem drei Sonnen aufgehen oder ich Planeten bereise, auf denen alles in lila Licht getaucht ist.

 

Auch wegen der Fragmentierung der digitalisierten Gesellschaft in ihre Masseteilchen verlieren die politischen Parteien Mitglieder und Wähler. Als Interessengemeinschaft und -vertretung kann sich kaum mehr jemand mit politischen Parteien identifizieren, weil das singuläre Leben zu einer stabilen Gruppenzugehörigkeit in Widerspruch steht. Unsere Interessen sind einfach zu individualistisch geworden, als dass sie noch Platz fänden unter dem gemeinsamen Dach gleich welcher Partei oder Organisation.

 

Die zweite Verlusterfahrung ist der Verlust der Wahrheit. Viele Menschen halten soziale Netzwerke für Nachrichtenkanäle. Das ist falsch. Soziale Netzwerke sind die Warenkataloge der digitalen Ära und nichts als Werbetechnologien. Aber in der Werbung haben Nachrichten – das ist die Weitergabe von Fakten – keine Chance. In der Werbung wird übertrieben, ausgelassen, erfunden und geradeaus gelogen. Aufgeregte Klicks, nicht die Wahrheit, lassen die Kasse der Technologiegiganten klingeln.

 

Beim Amoklauf im Münchner Olympia-Einkaufszentrum erscheint um 19:02 Uhr auf Twitter die erste Meldung über eine Schießerei mitten in der Stadt:

 

»Bin grad am Stachus und hier jetzt auch Schüsse.«

 

Zu einem Rechercheteam der Süddeutschen Zeitung, das zwei Monate nach dem Münchner Amoklauf mit dem Urheber jenes ersten Tweets über Schüsse am Stachus gesprochen hat, sagte die Quelle nur lakonisch: »Das Ganze nennt man Social Media, und Wahrheiten sind da nicht unbedingt auf dem Tagesplan.« (Backes, et al., 2016)

 

Wahrheit – zum Beispiel die Vernunftwahrheit, dass sich die Erde um die Sonne dreht – ist oft bekannt, wiederholt sich und wirkt deshalb langweilig. Ein Forscherteam hat deshalb herausgefunden, dass sich Falschmeldungen viel schneller und weiter verbreiten als Fakten – sie wirken neuer, frischer, unbekannter, eben unerhörter. (Vosoughi, Roy, & Aral, 2018) Bei Twitter kommt noch eines hinzu: Sie wirken auch authentischer.

 

Ein junge Ire hat einmal zu mir gesagt: »Wir lieben Facebook. Wir wollen angelogen werden. Endlich ist wieder etwas los. Diese Demokratie ist doch so langweilig. Es muss mal wieder so richtig krachen.«[2]

 

Lügen ist aber kein Spaß. Lügen haben schlimme Folgen. Das Lügen gilt als eine Form der Gewalt gegen Menschen, denn es trifft sie in ihrer Erkenntnisfähigkeit. Fakten, Meinung, alternative Fakten – das macht die Bürger unsicher. Wem sollen sie glauben? Ihresgleichen, den Bürgerjournalisten, die vom Stachus berichten? Die keine Nachrichten twittern, sondern nur ihren Gefühlen Ausdruck geben? Deren Zuverlässigkeit als Quelle niemand kennt und von denen man nicht einmal weiß, ob sie Mensch oder Maschine, Social Bot, sind? »Kommentare sind frei, aber die Fakten sind heilig.« (Scott, 1921) Ganz bestimmt gilt diese Medienethik nicht mehr im Informationsraum des 21. Jahrhunderts.

 

Die dritte Verlusterfahrung ist der Verlust der Vernunft. Das Internet ist die größte Affektmaschine der Welt. Soziale Netzwerke arbeiten mit Bildern, nicht mit Text, und besonders oft ohne Kontext. Bilder und Videos wecken Gefühle. Soziale Netzwerke affizieren die Menschen durch Emotionen – so wie es auch beim Amoklauf am OEZ geschehen ist. In 140 Zeichen ist nicht viel Erklärendes unterzubringen.

 

Bei meiner Start-up-Beratung begegne ich jungen Akademikern, die so kommunizieren: »Kann ich mal einen Keks«. Es folgt ein Emoji. Was meint dieser verkrüppelte Satz ohne Verb und Interpunktion? Kann ich mal einen Keks essen, backen, kaufen? Wer Sprache so verkürzt, erschwert das Denken.

 

Beides, Bilder und verkürzte Sprache, bringt die Menschen sprichwörtlich um den Verstand. Deshalb sagen Militärtheoretiker – auch Henry Kissinger hat sich dem angeschlossen –, dass das Ende der Aufklärung, des Zeitalters der Vernunft, gekommen ist.

 

Auch die Berliner Politik will komplexe Zusammenhänge künftig post-textuell kommunizieren – mit Bildern und wenig Text. Doch sie begeht einen Denkfehler. Sie tut geradewegs, als hätte die Ausbreitung von Sprache – und Sprache bringt Gedanken zum Ausdruck – durch den Buchdruck um das Jahr 1400 nichts mit den Erkenntnisexplosionen des Menschen in der Neuzeit zu tun. Wer mit Bildern Emotionen schürt, wird bei den Emotionen stehenbleiben. Wer sich aufregt, diskutiert nicht mehr.

 

[Folgen für das Konzept »Demokratie«]

 

Die genannten Verlusterfahren schüren Angst und Verunsicherung. Darauf reagieren die Menschen und formen das politische Konzept der Demokratie um. Demokratie tritt nämlich nicht natürlicherweise auf. Sie ist inhärent fragil, und sie verlangt nach einem hohen Wartungsaufwand, damit sie überleben kann. Demokratie bringt nicht zwingend mehr Demokratie hervor, und der Sieg der Demokratie über den Kommunismus 1989 war nicht das Ende der Geschichte. Demokratie kann auch wieder zerfallen.

 

Die Verlusterfahrungen der digitalen Ära ziehen Reaktionen der Bevölkerung nach sich, die alarmierend sind und die wir sehr ernst nehmen müssen.

 

Eine Reaktion auf die fragmentierte Meinungsmasse ist die politische Reorganisation als (nationalistische) Bewegungen statt als politische Parteien. Das gefühlte Chaos an Zerstreuung und disparaten Einzelmeinungen der digitalen Massegesellschaft lässt sich in den traditionellen politischen Strukturen – als politische Partei, Gewerkschaft oder Kirche – nicht mehr ordnen oder organisieren.

 

Stattdessen taucht eine andere Form der Organisiertheit auf, die Heterogenität in Mannigfaltigkeit zusammenfasst: Es ist die Bewegung – die Fünf-Sterne-Bewegung, Sahra Wagenknechts linke Bewegung Aufstehen, Emmanuel Macrons En Marche, die Gülen-Bewegung. Für Bewegungen sind soziale Netzwerke als »Netzwerke der Massenkooperation« von essentieller Bedeutung. Ihre Rolle spielen die Netzwerke bei der politischen Mobilisierung der Bewegung. Sie kann von ad hoc Smartmobs bis zu Formen des verteilten Protests reichen, zum Beispiel bei der Organisation von G20-Gegnern.

 

Traditionellen Formen politischer Architekturen sind Bewegungen radikal entgegengesetzt, weil sie weder über einen zentralen Steuerungsmechanismus noch über ein Programm verfügen. Zusammengehalten werden die Bewegungen nicht durch ein gemeinsames Programm, sondern durch Weltanschauungen, allen voran der Nationalismus. Im Nationalismus können sich viele Anhänger einer Bewegung verbunden fühlen, auch wenn sie ansonsten stark fragmentierte Einzelmeinungen vertreten. Gemeinsam ist Bewegungen auch häufig das »Eliten-Bashing«, wonach den politischen Eliten die Schuld an allen Übeln einer Gesellschaft zugeschrieben wird. Um Donald Trump zu zitieren: »Die Welt lacht über Amerikas Politiker. (…) Sie lachen über uns wegen unserer Dummheit [und derjenigen] unserer Führer.« (Trump, An open letter from Donald J. Trump, 1987)

 

Wer sich und seine Nation dann noch in die Opferrolle bringt, so wie es Donald Trump tut: »Die Vereinigten Staaten waren jahrzehntelang das Sparschwein, das alle ausraubten« (Trump, Speech: Donald Trump Holds a Make America Great Again Rally in Tampa, 2018), bewegt sich schon in Richtung Neo-Faschismus.

 

Dass sich Bewegungen auch als Parteien aufstellen, tut der Idee der Bewegung keinen Abbruch. Parteiprogramme mögen existieren, aber sie werden geschleift. Auch die AfD könnte Bewegung sein, weil ihr Parteiprogramm und ihre Personalien kaum eine Rolle spielen. Die Fünf-Sterne-Bewegung ist zwar Partei, ihr Parteiprogramm bezeichnet aber selbst die Wikipedia als »Ideologien«, als Weltanschauungen und Ansprüche.

 

Eine zweite Reaktion der Bevölkerung auf die Affektmaschine Internet ist Aufregung statt Debatte und das Potenzial, dass Demagogen auftreten. Weil der jahrelange Gebrauch sozialer Netzwerke Menschen so konditioniert hat, dass sie sich eher von Gefühlen reizen als durch Nachdenken und Debatte mobilisieren lassen, greifen »Masseführer mit Instinkt« (Arendt, 1955) für die digitale Gesellschaftsmasse zu allen Mitteln der Kommunikation, die Emotionen auslösen: zu Bildern, Videos und auch zur provokanten und übertriebenen Sprache. Statt mit Argumenten zu überzeugen, wird gedroht und beleidigt. Dabei gilt noch immer: Sprache kommt vor der Gewalt. Unsere Sprache heute ähnelt der Sprache der späten Weimarer Republik. Davon lassen sich viele Bürger abschrecken und ziehen sich aus dem politischen Handeln/Diskurs noch weiter zurück. Andere radikalisieren sich. Übertriebenes geht viral und steckt sie sozial an. Sentiment ist alles, das Denken tritt in den Hintergrund.

 

Wer also über die demagogischen Fähigkeiten von Provokation und Emotionalisierung verfügt, hat gute Chancen auf eine Karriere als Despot. Angeheizt durch den allgegenwärtigen Echtzeit-Informationsraum sieht sich die Bevölkerung deshalb immer mehr mit extremen statt konsensorientierten Politiker konfrontiert. »Als Demagogen fangen sie an, als Despoten enden sie«, hat schon ein Gründervater der USA, Alexander Hamilton, 1787 gewarnt. (Hamilton, 1787)

 

Kommen wir zum Fazit. Demokratie kann ihren Charakter ändern. Sie reicht von perfekt über defekt zu hybrid, bevor sie endgültig auf die unterste Stufe aller Herrschaftsformen, die Diktatur, abrutscht. Verfassungsrechtler in den USA halten die Vereinigten Staaten inzwischen für ein hybrides System zwischen defekter Demokratie und Despotismus. Und weil soziale Netzwerke einen globalen Anspruch erheben, bleibt Europa von sozialer Ansteckung und anti-demokratischen Bewegungen nicht verschont. Das bedeutet mehr Gewalt im Internet und auf der Straße, mehr Egoismus, mehr rücksichtsloses Handeln, mehr Provokation und Aufregung und weniger Debatte.

 

Dabei ist die Mutter aller Probleme nicht die Migration, sondern die Angst. Angst ist eine der stärksten emotionalen Triebkräfte, über die wir Menschen verfügen. Angst kann man politisch ausnutzen. »Angst ist das Prinzip, das absolut herrscht, wenn alle anderen Prinzipien relativ geworden sind.« (Prisching, 2017)

 

[Personal: Die Rolle der Polizei]

 

Kann noch mehr Überwachung der Gesellschaft und des Einzelnen den Menschen das Gefühl der Angst nehmen? Können mehr Einsätze der Polizei den Menschen das Gefühl größerer Sicherheit geben?

 

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich weiß, dass wir andere polizeiliche Lagen und Gefährdungen haben als früher. Die Polizei leistet jedes Jahr zig Millionen Überstunden, von denen sie nicht weiß, wie sie sie abbauen sollen. Und ich weiß auch, dass mehr Einsatzstärke nötig ist, weil Bürger das Gewaltmonopol des Staates nicht mehr ohne weiteres respektieren.

 

Sicherheit steht nicht im Gegensatz zur Freiheit. Das ist eine Metapher, die wir uns ausgedacht haben. Freiheiten werden schnell geopfert mit der Vorstellung, genau dadurch ihren besseren Schutz zu erreichen. Doch zwischen mehr Sicherheit und weniger Freiheit besteht nicht zwingend ein kausaler Zusammenhang. Der Staat kann Freiheit einschränken, aber mehr Sicherheit wird dadurch nicht notwendigerweise erreicht – wie man sie sich etwa von der digitalen Massenüberwachung oder Open Source Intelligence (OSINT) verspricht, obwohl es gerade im letzten Fall nicht gelingt, aus Massendaten Lagebild-relevante Informationen für die Polizei zu erzeugen. Denn Online-Quellen, die einmal lügen und ein anderes Mal die Wahrheit sagen, sind unbrauchbar für die Lageanalyse. Den sozialen Netzwerken die Teufel Provokation, Hassrede oder Fake News mit dem Beelzebub »Künstliche Intelligenz« oder Big Data Analytics auszutreiben, dürfte deshalb schwierig werden. »Was die KI für die Polizei ermöglicht, wird sie auch für die Kriminellen leisten«[3], klagt ein Mitarbeiter des Cyber Crime Competence Centre beim österreichischen Bundeskriminalamt. Sinnvoller ist es, stattdessen auf gut ausgebildete und gut bezahlte polizeiliche Fachkräfte zu setzen – in den Fähigkeitenaufbau der menschlichen Analytiker, der IT-Forensiker und in die Prävention.[4]

 

Sicherheit steht nicht im Gegensatz zur Freiheit, aber Sicherheit ist nicht zu denken ohne das Gefühl von Angst und sein Pendant. Es heißt Vertrauen. Ohne das Vertrauen der Gesellschaft im 21. Jahrhundert kann Demokratie der Diskontinuität durch die Digitalisierung nicht standhalten.

 

Etwa eine Stunde nach dem ersten Notruf am Abend des OEZ-Amoklaufs trat der Pressesprecher der Münchner Polizei, Marcus da Gloria Martins, vor die Kameras und Mikrofone. Den gesamten Abend und während der Massenpanik in der Stadt war er derjenige, der einen kühlen Kopf bewahrte. Er wirkte ruhig, ehrlich und immer vernünftig. Da Gloria Martins deeskalierte. Gleichzeitig hat die Münchner Polizei über ihren Twitter-Account online und in Echtzeit über die Lage informiert. Das hat die Münchner Massenpanik zwar nicht verhindert. Aber ihr glaubwürdiger Sprecher hat der Münchner Polizei großen Respekt eingebracht, sogar ein bisschen Bewunderung. Die Menschen vertrauen ihrer Münchner Polizei.

 

Die Aufgabe, das Vertrauen der Menschen zu erringen, richtet sich aber zuerst an die Politik. Politiker, die in Zukunft nur noch post-textuell in Bildern und Videos kommunizieren wollen und die so dem generellen Trend von Emotionalisierung und Provokation folgen, schaffen kein Vertrauen. Kommunikation, die von »Asyltourismus« über »Bätschi« und dem Vergleich eines Bundesministers mit einer »wilde[n] Sau« spricht, reiht sich ein in die lange Liste der Provokationen und Angstmacher.

 

Wenn es Politik nicht gelingt, Vertrauen wiederherzustellen, wird der Staat künftig stärker um sein Gewaltmonopol ringen müssen, weil Angst und Gewalt in der Bevölkerung weiter zunehmen. Dem Staat bleibt dann nur die Option, sich in einen neo-autoritäreren Staat zu transformieren und dann eben doch die Achse Sicherheit versus Freiheit zu bemühen. Auf die Polizei kämen dann wahrscheinlich mehr und schwerere Lagen zu. Das ist das eine. Etwas anderes würde mich schwerer treffen, wäre ich heute Polizeibeamtin: Dass ich in Zukunft treu einem Staat dienen müsste, der zwar als Demokratie angetreten, dann aber in die Illiberalität abgerutscht wäre. Dass die Herrschaftsform dann nicht mehr dieselbe wäre, der ich einst die Loyalität versprochen hätte. Das ist ein Worst-Case-Szenario.

 

So verbindet sich mit meinem heutigen großen Dank für Ihren Dienst auch die Sorge, dass Ihre Arbeit in einer durchdigitalisierten Zukunft nicht leichter wird. Ich wünsche Ihnen, dass Gesellschaft und die von ihr beauftragte Politik, darunter der Gesetzgeber, viel wachsamer werden und dafür sorgen, dass Demokratie auch künftig möglich ist: als Gemeinschaft, die zwar aus dem »mit mir« schöpft, aber deshalb auch immer aus dem »mit dir« (Heuss, 1965), die von vernünftiger Debatte in würdiger Sprache begleitet ist, weniger aufgeregt und weniger provokant, damit die Vernunft die zunehmende Gewalt und Rohheit in der Gesellschaft früh überwinden kann. Ich danke Ihnen.

 

Literaturverzeichnis

 

Arendt, H. (1955). Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. 18. Auflage 2015. München/Berlin: Piper Verlag GmbH.

 

Backes, T., Jaschensky, W., Langhans, K., Munzinger, H., Witzenberger, B., & Wormer, V. (30. September 2016). Timeline der Panik. Abgerufen am 15. August 2018 von Süddeutsche.de: https://gfx.sueddeutsche.de/apps/57eba578910a46f716ca829d/www/

 

Eberlein, S. (Regisseur). (2018). Stadt in Angst [Kinofilm]. Abgerufen am 15. August 2018 von https://www.ardmediathek.de/tv/DoX-Der-Dokumentarfilm-im-BR/M%C3%BCnchen-Stadt-in-Angst/BR-Fernsehen/Video?bcastId=24831852&documentId=54155602

 

Hamilton, A. (17. Oktober 1787). The Federalist Papers. The Federalist 1. Abgerufen am 27. August 2018 von American History: http://www.let.rug.nl/usa/documents/1786-1800/the-federalist-papers/the-federalist-1.php

 

Heuss, T. (1965). Die großen Reden. Der Staatsmann. Tübingen: Rainer Wunderlich.

 

Prisching, M. (2017). Soziologie der kollektiven Ängste. Theologisch-praktische Quartalsschrift(4), S. 339-347. Regensburg: Verlag Friedrich Pustet.

 

Scott, C. P. (1921). History of the Guardian and The Observer. Manchester: Guardian.

 

Simon, O. (Juli 2018). Studentenstudie 2018. Abgerufen am 27. September 2018 von Ernst&Young: https://www.ey.com/Publication/vwLUAssets/ey-studentenstudie-2018/$FILE/ey-studentenstudie-2018.pdf

 

Trump, D. (02. September 1987). An open letter from Donald J. Trump. Abgerufen am 20. August 2018 von Factba.se: https://factba.se/transcript/donald-trump-letter-foreign-policy-september-2-1987

 

Trump, D. (31. Juli 2018). Speech: Donald Trump Holds a Make America Great Again Rally in Tampa. Abgerufen am 20. August 2018 von Factba.se: https://factba.se/transcript/donald-trump-speech-maga-tampa-july-31-2018

 

Vosoughi, S., Roy, D., & Aral, S. (13. März 2018). The spread of true and false news online. Science, 359 (6380), S. 1146-1151. doi:10.1126/science.aap9559

 

Zitate

 

[1] Zitat, zugeschrieben dem Science-Fiction-Autor William Gibson, vgl. https://en.wikiquote.org/wiki/William_Gibson

 

[2] Äußerung eines jungen Mannes gegenüber der Autorin im Verlauf einer Veranstaltung.

 

[3] Aus einem Email eines Mitarbeiters des Cyber Crime Competence Centre beim österreichischen Bundeskriminalamt in Wien an die Vortragende vom 09.10.2018

 

[4] A.a.O.